Dienstag, 30. Dezember 2008

Ein professoraler Denkanstoss zum Thema "Rechtspluralismus" ...

... und wie die 'NZZ am Sonntag' (notabene redaktionell, inhaltlich und thematisch eine andere Zeitung als die Tageszeitung 'NZZ') fragte: "Scharia-Gerichte in der Schweiz?".

Das Recht auf freie Meinungsäusserung beinhaltet selbstverständlich auch, dass Sozialanthropologen einen Denkanstoss zugunsten eines sogenannten "Rechtspluralismus" lancieren dürfen. Ich halte es mit der Meinungsäusserungsfreiheit ja mit Hannah Arendt, die einmal schrieb: "Das heisst nicht nur, dass ich sie (die andere Meinung) toleriere, sondern, dass ich sie brauche, weil sie eine Bereichung ist." Das gelte allerdings nicht für Radikale, die sich mit ihren Ansichten ausserhalb des Gemeinwesens stellten. Nicht, dass Professor Giordano ein Radikaler sein muss, aber sein Vorschlag spielt eindeutig den Radikalen in die Hände.

Der Rechtsstaat westlicher Prägung darf und soll hinterfragt werden, nicht zuletzt um die in der Gesellschaft tradierten rechtskulturellen Werte allfällig zu hinterfragen und bei Bedarf zu verbessern. Auch schrieb jemand in einem Forum: "Nationale Identität soll immer wieder in Frage gestellt werden. Wo sie angefeindet und aufgerieben wird, sieht man ihr Gerüst." Dies ist zweifelsfrei richtig. Dennoch wirkt der Denkanstoss vor dem Hintergrund der in vielen Fällen offensichtlichen Unvereinbarkeit von modernem bürgerlichen Recht, das römisch begründet ist, und religiös legitimiertem, unabänderlichen Recht des Islam befremdend. Nicht nur würde eine Rechtssprechung, deren Grundlage die Scharia bilden würde, Unrecht, Menschenfeindlichtkeit und Diskriminierung Vorschub leisten, sondern der Geist des in zähen geschichtlichen Auseinandersetzungen erkämpften bürgerlichen Rechtes - dem nebst der Disziplinierung von rechtlich relevanten Fehlverhaltens vor allem auch eine erzieherische Idee zugrundeliegt und dem also beispielsweise beim Strafrecht der Gedanke einer zweiten Chance eigen ist - würde aufgrund eines falsch verstandenen Toleranzbegriffes fahrlässig aufgegeben. Die Gleicheit vor dem Gesetz ist gerade dasjenige Prinzip, das ein Zusammenleben von verschiedenen Bevölkerungsgruppen garantieren soll.

Untenstehend der Text von Professor Christian Giordano, der sinnigerweise ausgerechnet in der Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus veröffentlicht wurde:

"Rechtspluralismus: ein Instrument für den Multikulturalismus?

Der Rechtspluralismus ist in fast allen Gesellschaften mit ethnischer und kultureller Vielfalt eine Realität. Er wird zwar meistens offiziell nicht anerkannt, ja sogar ignoriert, verneint und bekämpft, weil er als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wahrgenommen wird. Ein Beispiel neueren Datums ist die Polemik in Grossbritannien, die durch die Erklärung des Erzbischofs von Canterbury entfacht wurde. Er hatte die Idee ausgesprochen, Elemente des islamischen Rechts ins britische Gewohnheitsrecht zu integrieren. Der Rechtspluralismus stellt die tief verankerten Mythen der Rechtsdoktrin wie die Einheit der westlichen Rechtssysteme in Frage. Sein deklariertes Ziel ist die Anerkennung der kulturellen
Vielfalt und der unterschiedlichen Ansprüche an das Recht.

Der Rechtspluralismus – der sich vor allem in Aspekten des Zivil- und Familienrechts sowie Finanz- und Wirtschaftsrechts aufdrängt – möchte natürlich keine parallelen und autonomen Rechtsprechungen errichten. Es geht eher darum, in einigen Bereichen des gesetzten Rechts Mechanismen einzuführen, die den kulturellen Eigenheiten Rechnung tragen. Selbstverständlich muss die Hierarchie, auf welcher das Rechtssystem beruht, respektiert werden, um die Rechtsgültigkeit der Verfassung, die säkular sein muss, die Menschenrechte und die demokratischen Grundprinzipien zu garantieren. Hinzu kommt aber, dass die Individuen die freie Wahl haben sollten, zu entscheiden, welcher Rechtsprechung sie unterworfen werden möchten.

Der Rechtspluralismus ist sicherlich kein Wundermittel. Aber er ist wohl die bessere Lösung, als die Augen vor den parallelen Rechtsprechungen zu verschliessen, die in den europäischen Ländern bereits existieren und ohne jegliche staatliche Kontrolle angewandt werden. Ein weiterer Vorteil des Rechtspluralismus wäre, dass die europäische Rechtsetzung dadurch weniger dogmatisch würde, was längerfristig der Integration dienen würde.

Christian Giordano ist ordentlicher Professor der Sozialanthropologie
an der Universität Freiburg i.ü.
christian.giordano@unifr.ch" (Link)

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