Mittwoch, 10. Juni 2009

Wirtschaftsethik - eine sinnvolle wissenschaftliche Disziplin?

In der teils hitzig geführten Debatte, ob die Schweiz eine 'Steueroase' sei oder nicht, hat sich auch ein gewisser Ulrich Thielemann, seineszeichen ein deutscher Wirtschaftsethiker an der Universität St. Gallen, zu Wort geäussert. Unter anderem vertrat er an einer öffentlichen Anhörung des deutschen Bundestages zur Bekämpfung der angeblichen Steuerhinterziehung eine kontroverse Position in Bezug auf die schweizerische Steuergesetzgebung. In der Folge wurde er wegen seinen Äusserungen kritisiert. Es hing gar das Damoklesschwert einer möglichen Entlassung über seinem Haupt.

In diesen bewegten Zeiten, in denen in den Leserbriefspalten der Zeitungen und in Diskussionsrunden der Politiker bisweilen ein Wirtschaftskrieg der Hochsteuerkartelle gegenüber steuerattraktiven Staaten und Jurisdiktionen vermutet wurde und wird, verlor auch das Institut für Wirtschaftsethik und mit ihm ebenfalls die Universität St.Gallen (HSG) an Glaubwürdigkeit. Harte Kritiker des Instituts für Wirtschaftsethik stellten gar die Daseinsberechtigung dieser Lehrstätte in Frage, da Moral keine Wissenschaft sei.

Nachfolgend einige Leserbriefe aus der 'Neuen Zürcher Zeitung' zum Thema, um die Stimmung einzufangen:

"Wissenschaftsfreiheit und Klugheit
Zu X Leserbrief über die Auseinandersetzungen um Ulrich Thielemann (NZZ 19. 5. 09) ist festzuhalten, dass die Meinungsäusserungsfreiheit in einem liberalen Staat den gleichen Stellenwert hat wie viele andere Freiheiten, zum Beispiel das Bankkundengeheimnis. Wer freiheitlich denkt, wägt die eine Freiheit nicht gegen die andere auf.

Hingegen kann man nicht tolerieren, dass in einem Wirtschaftskrieg, wie er gegenwärtig herrscht, ein Wissenschafter in der Machtzentrale des politischen Feindes sein Gastland verunglimpft und mit seinen Äusserungen schädigt. Der Kluge würde eine solche Einladung nicht annehmen, sondern seine Meinung eher im Rahmen eines akademischen Kolloquiums zum Besten geben. Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit, denn diese hat der Wissenschafter überall, ausser in diesem spezifischen Zeitfenster in den höchsten politischen Gremien des feindlich gesinnten Landes."

"Der Ethik einen Platz
Der Autor C. W. meint, dass Ulrich Thielemann die Freiheit, die er als Wissenschafter benötigt, mit seinen Äusserungen bei einem Bundestags-Hearing nicht missbraucht habe. Ich habe Herrn Thielemann am 31. März im «Talk täglich» von Tele Züri gesehen. Dort benahm er sich nicht wie ein Wissenschafter, sondern wie ein sich ereifernder Prediger, wie man sie aus Amerika kennt, und auf Gegenargumente ging er schon gar nicht ein. Wenn Herr Thielemann ein Wissenschafter wäre, hätte ihm das heutige aufgeheizte Klima Zurückhaltung in seinen Äusserungen nahelegen müssen. Insofern hat er keine Freiheit. Für den Kavalleristen und Indianerjäger Steinbrück ist Herr Thielemann natürlich ein Glücksfall, da er sozusagen als «Maulwurf in Feindesland» agiert.

Weiter stimmt der Vergleich mit dem Professor und Banken-Kritiker Jean Ziegler nicht. Dieser profilierte sich in wirtschaftlich guten Zeiten und wurde wegen verschiedener «Irrtümer» ohnehin nicht ernst genommen. Ein Herr Thielemann scheint mir in der gegenwärtigen Situation um ein Vielfaches problematischer zu sein."

Es gab neben den 2 besorgten Leserbriefen aber auch Stimmen, die den Wissenschafter in Schutz nahmen - namentlich und wenig überraschend aus sozialdemokratischen Kreisen:

"Nach einem Referat zur Bankenkrise fragte mich kürzlich ein älterer Herr aus dem Publikum, wo denn eigentlich in der Schweiz die Ethik noch bleibe. Ich antwortete, dass Ethik in Politik, Medien und Wirtschaft leider verdrängt werde. Mit Freude verwies ich jedoch auf die interessanten Publikationen des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen (HSG) und auf die wichtigen Arbeiten der Ethiker in den beiden Landeskirchen.

Kurz darauf ging das unglaubliche Kesseltreiben gegen Ulrich Thielemann los. Ausgerechnet aus den neoliberalen Kreisen, welche die volle Verantwortung für den heutigen globalen GAU mitzutragen haben. 2003 veröffentlichten Ulrich Thielemann und Professor Peter Ulrich den hervorragenden «Brennpunkt Bankenethik». Hätten unsere Grossbankiers die Erkenntnisse dieser Publikation ernst genommen, so hätten sie nicht beim Staat um Steuermilliarden in noch nicht absehbarem Ausmass betteln müssen.

Darum: Die Schweiz braucht mehr Ethik, insbesondere der Finanzplatz Schweiz. Wehren wir den Anfängen!
Margret Kiener Nellen (Bern)
Nationalrätin, SP"

Als Konklusion eignet sich ein Leserbrief, der die Thematik aus einer grundsätzlichen Perspektive beleuchtet:

"Ethik und Moral
Die Äusserungen des Ethikers Thielemann haben einige Leser der NZZ (16. 4. 09) irritiert. Früher wurden klare Kategorien unterschieden: «Ethik» war Moralphilosophie, Nachdenken über Moral; «Moral» hingegen bezeichnete ein Set geltender Werte und Regeln. Nun lassen einige Vertreter der Ethikzunft die beiden Begriffe zusammenfallen und schaffen damit just ab, wofür der Steuerzahler sie bezahlt: das Nachdenken über Moral.

Ein Leser macht Ulrich Thielemann als Eiferer aus. Und ich habe mich gefragt, ob wir es bei einer Ethik, die Moralphilosophie und Moral nicht mehr auseinanderhält, überhaupt noch mit Wissenschaft zu tun haben. Massen sich nun sogenannte Ethiker in absolutistischer Manier an, die einzig richtige Moral zu haben? Leider wird auch im Sozial- und Rechtsbereich betont, dass, was man tut, nichts mit Moral zu tun habe. Auch hier dient das Schlagwort «Ethik» dazu, professionelle Positions- und Erwerbsinteressen durchzusetzen.

Was, wenn wir zur Unterscheidung von Ethik und Moral zurückkehrten? In der Disziplin «Moralphilosophie» könnte wieder über Moral auf beiden Ebenen nachgedacht werden: Auf der Ebene der Gesellschaften wären die spezifischen Moralitäten zu reflektieren, wie sie sich in der Weltwirtschaft aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse und Ressourcen konkretisieren; auf der Ebene der Individuen wäre über die Unterschiede in der personalen Moral nachzudenken, die sich kontextspezifisch ausbilden.
Ein Urteil über Moralität hätte dann die Ressourcen in Rechnung zu stellen, über die eine Gesellschaft verfügt, um das hochzuhalten, was in den global so unterschiedlichen Kontexten jeweils als das Gute gilt. Das Moralisieren hingegen liesse diese Komplikationen in der Aussenwelt unberücksichtigt, weil es nur den Schwarzweisskategorien der eigenen Innenwelt genügen will. Und die Ethik könnte die Frage stellen: Was heisst es für unsere Gesellschaft, wenn sie sich ihre Moralität zunehmend von professionellen und kapitalisierbaren Interessen bestimmen und usurpieren lässt? Werden wir Menschen damit als Privatpersonen aus der Moral entlassen? Das gäbe zwar mehr Arbeit für jene, die sich mit Moralisieren ihr Geld verdienen, dürfte aber immer weniger zum gelingenden Zusammenleben beitragen."

Diese Fragen scheinen mir zuvörderst diskutabel zu sein. Thielemanns Äusserungen jedenfalls erscheinen vor diesem Hintergrund problematisch. Auch sind bei ihm oftmals die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsimitation fliessend. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Wissenschaft manchmal sogar mit Ideologie durchsetzt ist. Eine solche Ethik bzw. Moral aber muss sich den Vorwurf gefallen lassen, interessengeleitet zu sein.

Ins eher negative Bild, dass das Institut für Wirtschaftsethik ferner in gewissen Teilen der Öffentlichkeit abgab, fügte sich ein, dass Thielemann ein potentieller Nachfolger vom Lehrstuhlinhaber, Prof. Dr. Peter Ulrich, ist, der erst kürzlich seine Abschiedsvorlesung gehalten hat und also in den Ruhestand treten wird. Für die ausgeschriebene Professur will sich pikanterweise auch Christoph Blocher bewerben.

Entgegen der Linie des Instituts, das vorwiegend über Markt und Moral nachdenkt, möchte Blocher, seineszeichen ein Anhänger von Friedrich August von Hayek (dem dieses Blog wohl gewogen ist), eher die wohlfahrtsfördernden Merkmale des Marktes herauskehren. Er möchte lehren, "wie man ethisch führt." Oder ebenfalls "was die ethische Bedeutung der Gewinnerzielung und des Shareholder-Value" sei.

Nun wäre mir ein Wirtschaftsethiker Blocher, der in Fragen der politischen Ökonomie, bis auf einige Gebiete (z.B. Landwirtschaft), mehrheitlich eine urliberale Haltung vertritt, tatsächlich lieber als ein Wirtschaftsethiker Thielemann, der sich gemäss einem sehr lesenswerten Editorial von Roger Köppel in der 'Weltwoche' mit seiner Arbeit eher dazu eignen würde, sich für einen "krisenfesten Kommandoposten in der staatlich gelenkten Wirtschaft" zu empfehlen.

Um die Frage zu diskutieren, ob die Wirtschaftsethik, wie sie etwa von Ulrich Thielemann verstanden wird, eine sinnvolle wissenschaftliche Disziplin sei oder nicht, soll, bevor ein der Wirtschaftsethik wohl gewogener und zugleich auch sehr interessanter Beitrag im Fokus steht, auf eine kritische Einschätzung Köppels aus ebenjenem Editorial hingewiesen werden. Er schreibt darin etwa:

"(...) Abgesehen davon liegt der Ethiker in der Sache falsch. Dass es den Eidgenossen in Steuerfragen an Unrechtsbewusstsein mangle, hat damit zu tun, dass erstens Steuerhinterziehung nach Schweizer Recht kein Unrecht darstellt und dass sich die Schweiz zweitens bisher an alle von der EU gewünschten Steuerabkommen gehalten hat. Es mag also durchaus sein, dass es den Schweizern weniger an Unrechtsbewusstsein fehlt als dem Wirtschaftsethiker an einem Gespür für die Rechtsordnung, in der er sich bewegt.

(...) Die Wirtschaftsethik ist ein junges, hochpolitisches Fach, mit dem sich vor allem an deutschsprachigen Universitäten die als «neoliberal» verschrienen Ökonomen ein linkes Feigenblatt zulegten. Um Opposition abzubremsen, begann man systemkritische Wirtschaftsfakultäten einzurichten, die seit Mitte der achtziger Jahre «Gier» und «Unmoral» der Manager beklagen. Als typischer Vertreter seiner Zunft fühlt sich auch Thielemann von der Ahnung bewegt, «dass da irgendetwas falsch ist mit dem Markt». Er habe eine «ethisch begründungsfähige Sicht (statt eine ideologisch verkürzte oder beschönigende) auf das Wirtschaften» werfen wollen. Seinen Homepage-Eintragungen lässt sich entnehmen, dass sich die Wirtschaftsführer von fragwürdigen Motivationen leiten lassen und «ethisch verantwortungsvolle Unternehmen» im Wettbewerb «die Dummen» sind, als ob es nicht genügend Beispiele gäbe von Enron bis Bernie Madoff, dass sich unehrliches Geschäften am Ende gerade nicht lohnt."

Diese berechtigen Einwände bedenkend, fand letzten Sonntag ein interessantes Gespräch zwischen dem linksliberalen Publizisten Roger de Weck und Peter Ulrich in der 'Sternstunde Philosophie' - der besten Sendung des gebührenfinanzierten Schweizer Fernsehens - statt. Sie unterhielten sich über Werte und Moral in der Ökonomie.

Nachfolgend das Gespräch, das einige interessante und durchaus auch zustimmungspflichtige Voten beinhaltet:



Allerdings mag man als Anhänger eines liberalen Wirtschaftssystems die kärgliche Bezugnahme im Gespräch auf Adam Smith und seine Moralphilosophie bedauern. Köppel schreibt in seinem Editorial nicht zu Unrecht:

"Die Wirtschaftsethik ist allerdings ein schlechter Ratgeber. Sie geht von einem Missverständnis aus. Die grossen Vordenker der Marktwirtschaft dachten in «Ordnungen». Sie gingen der Frage nach, wie erfolgreiche Gesellschaften organisiert sind und warum Staaten, die eine freie Preisbildung, Rechtssicherheit und privates Eigentum zulassen, ein höheres Wohlstandsniveau erreichen als Gesellschaften, die ihr Wirtschaftsleben staatlicher Planung und Kontrolle unterwerfen. Die alten Schotten wie Adam Smith oder David Hume nannten sich «Moralphilosophen», weil sie sich nicht kleinkariert bei moralischen Verfehlungen im wirtschaftlichen Alltag aufhielten, sondern das übergeordnete Problem behandelten, wie erfolgreiche Lebenszusammenhänge beschaffen sein müssen.

Für sie gab es die Entgegensetzungen der Wirtschaftsethiker nicht. Die Marktwirtschaft war für sie ein ethisches System, das seinen Teilnehmern bestimmte Fähigkeiten, Regeln und Orientierungen sowohl abverlangt wie auch aufzwingt. Marktgesellschaften sind kein Dschungel ohne Moral. Im Gegenteil: In ihnen verwirklichen sich entscheidende Forderungen des westlichen Wertekatalogs: Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, aber auch Empathie, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihren Bedürfnissen zu entsprechen. Indem jeder seine eigenen Interessen verfolgt, wird das Gesamtwohl befördert, ohne dass es eine koordinierende Behörde braucht. Absturzgefahr lässt sich als Berufsrisiko einer freien Lebensführung nie vollständig bannen. Die Marktgesellschaft ist nicht, wie Thielemann und Kollegen immer behaupten, ein Instrument zur Entfesselung des gierigen Ego. Der Markt ist eine moralische Anstalt, in der sich der Eigennutz zur wechselseitigen Dienstleistung zivilisiert.

Natürlich geisselten auch Smith und Hume blinde Geldgier und unehrliche Geschäfte, aber sie waren Realisten genug, um solche Entgleisungen als ewige Möglichkeiten der Conditio humana zu ertragen. Wer sie politisch beseitigen möchte, ruft nur noch grösseres Unheil hervor. Die einzige «Ethik», die Smith und Hume wohl anerkannt hätten, wäre die Selbstbeschränkung der Politik auf ein paar klar umgrenzte Zuständigkeiten gewesen, auf eine Rolle, die das freie Kräftespiel nicht behindert. Die thielemannsche «Ethisierung der Wirtschaft» durch die Politik hätten sie als das empfunden, was sie ist: eine gegen die Freiheit gerichtete Aufrüstung des Staates, die mehr Wohlstand vernichtet, als sie zu schaffen vorgibt."

Summa summarum: Entgegen der Auffassung einiger, dass der Wirtschaftsethik kein Platz im wissenschaftlichen Betrieb einzuräumen sei, bin ich der Ansicht, dass sie durchaus ihren akademischen Daseinszweck hat. Sie sollte sich allerdings auf das Wesentliche beschränken, wie dies etwa im Leserbrief "Ethik und Moral" skizziert worden ist: das Nachdenken über Moral (Ethik) und nicht das Nachdenken über geltende Werte und Regeln (Moral). In diesem Lichte betrachtet und unter dem Eindruck der kritischen Einschätzungen Köppels sollte sich eine Wirtschaftsethik, wie dies Peter Ulrich im Gespräch mit de Weck sehr wohl macht (wenn er etwa die bürgerliche Gesellschaft analysiert oder vom "Geburtsfehler" der sozialen Marktwirtschaft spricht: "Dieser Geburtsfehler besteht darin, dass der Sozialstaat ex post - im Nachinein - die Symptome, die durch das markwirtschaftliche Kräftespiel verursacht sind, bloss lindert, kompensiert, korrigiert - der Reparaturbetrieb. An den Ursachen hat man nichts geändert."), mehr mit den Grundsatzfragen der Ökonomie befassen als mit den moralinsauren Ausdünstungen rudimentär-ökonomischer Betätigungsfelder, wie dies bei Thielemann manchmal der Fall zu sein scheint.

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